Hetzendorfer Genesis
von Horst Aschermann / 19721972, im Jahr, in dem unsere „Kirche am Wege“ eingeweiht wurde, schuf der Künstler Horst Aschermann (http://www.ilmenau.de/849-0-Horst+Aschermann.html) im Auftrag der Gemeinde acht Aluminiumgusstafeln als Wandfries für den neuen Kirchenbau.
Genesis bedeutet Schöpfung: so bilden die ersten fünf Tafeln die sogenannte erste biblische Schöpfungsgeschichte aus dem ersten Buch Mose 1 nach. In intensiven Diskussionen mit dem damaligen Pfarrer der Gemeinde, Michael Meyer, und mit dem Presbyterium kam man überein:
Die Schöpfungsgeschichte ist wichtig und Grund alles Geschaffenen, doch dabei bleibt das Bekenntnis der Christen nicht stehen. Unser Glaube und unsere Weltsicht reichen darüber hinaus in die Zuversicht des neuen Lebens aus Christus. So entstanden noch drei weitere Tafeln mit einem tiefen theologischen Konzept.
Genesisdarstellungen:
Viele Darstellungen der Schöpfungsgeschichte kennen wir (z. B. in der Sixtinischen Kapelle in Rom). Die älteste uns bekannte findet sich in der sogenannten „Wiener Genesis“, einer griechischen Purpurhandschrift mit Miniaturen aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, die in der Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt wird (im Cod. Theol. gr. 31, so der wissenschaftliche Name).
„Es gibt wohl in der sakralen Kunst von heute kein überzeugenderes Beispiel für die elementare und unpathetische Sicht der christlichen Schöpfungslehre, als diese kargen und zugleich leidenschaftlichen Bekenntnisse der „Hetzendorfer Genesis“, die das Goethe-Wort „Stirb und werde“ und Teile von Bachs h-Moll-Messe in der gregorianischen Intonation in sich aufgenommen haben.“ (aus: Hetzendorfer Genesis. Schöpfungsdarstellungen von Horst Aschermann. Erläutert von Franz Rudolf Siebenmorgen. Fotografiert von Willi Sramek, Hg. von Bender+Co Ges mbH; Seite 8)
Ingrid Vogel, März 2020
Kirchenraum der „Kirche am Wege“ – Evangelische Pfarrgemeinde A.B. Wien-Hetzendorf
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Bildtafel 1: „Das Prinzip“, Entstehung von Himmel und Erde.
Martin Luther (2017), 1. Mos1, 1 Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. 2 Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe.
Die Leere ist nicht darstellbar, diese creatio ex nihilo, aber der nächste Schritt wird sichtbar, das Chaos, die Gesteinswüste mit tiefen Kratern und schroffen Bergen an deren Rand das Erdinnere zu brodeln scheint. Dies alles geschieht nicht aus Zufall oder einer „Laune der Natur“, wie es in einem modernen geistlichen Lied heißt. Unter Gottes wachsamem Auge formt Er seine Welt – unsere so kostbare Schöpfung.Bildtafel 2: „Die Pflanze“, Die bewachsene Erde.
1.Mos1, 11 Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist auf der Erde. Und es geschah so. 12 Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art, und Bäume, die da Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war.
Gott sprach – und Gott sah. Das Wort der Schöpfermacht bringt ins Sein. Das Auge sieht es – auch unsere Augen sehen es und unsere Zunge darf es schmecken: die Schöpfung ist überreich an Formen und der Geschmack des Lebens ist immer wieder überwältigend.
Bildtafel 3: „Das Tier I“, Erschaffung der niedrigen Lebewesen.
Diese Feste ist deutlich gemauert quer durch das Bild. In dem oberen Teil schafft Aschermann die Bilder der Gestirne: 14 Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht. Sie seien Zeichen für Zeiten, Tage und Jahre.
Im unteren Teil tummeln sich die niederen Tierarten: 20a Und Gott sprach: Es wimmle das Wasser von lebendigem Getier, 21a große Seeungeheuer und alles Getier, das da lebt und webt. Wir erkennen Fische, Seeanemonen, und so allerlei Schmackhaftes.
Bildtafel 4: „Das Tier II“, Erschaffung der höheren Lebewesen.
Nicht nur die Vögel unter dem Himmel, die aus ihren Gelegen auffliegen in die Lüfte, auch die Pferde, eines der Seelentiere Aschermanns, stellt der Künstler in allen Entwicklungsstufen der Föten bis zum weidenden und springenden Tier dar.
1.Mos 1, 22 Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch …und die Vögel sollen sich mehren auf Erden. 24 Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor lebendiges Getier, ein jedes nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art.
Bildtafel 5: „Der Mensch“, Erschaffung des Menschen.
1.Mos 1, 26a Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei. 27 Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. 28 Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht. 29 Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise.
31 Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.
Es war sehr gut – so sagt Gott über seine Schöpfung. Und doch kündet diese letzte Genesis-Tafel bereits das Unheil: so steht neben Adam (d.h. Mensch) der Paradiesesbaum, neben Eva (das bedeutet die Mutter alles Geschaffenen) erhebt sich die Schlange.
Der Künstler stellt das Urmenschenpaar noch nackt dar, kein Feigenblatt, keine Erkenntnis der eigenen Blöße. Doch das Bild der Ursünde ist schon der Schöpfung eingepflanzt.
1.Mos 3, 15 Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.
Diese Botschaft des sogenannten „Protevangeliums“ erkennt man erst in der Fortsetzung der Bildkomposition und der gekonnten Hängung der acht Tafeln.
Bildtafel 6: „Die Menschheit“, Turmbau zu Babel.
Betrachtet man den Fries aus einem kleinen Abstand, erkennt man, dass alle Bilder eine mehr oder weniger starke Neigung nach rechts haben. Dieser Turm nun scheint bereits nach rechts zu kippen.
Durchgestaffelt durch alle Nationen der Menschheit türmen sich Generation um Generation aufeinander. Das Gift der Schlange ist nicht auszurotten. Die Sünde, die Hybris, die Anmaßung ist uns Menschen eingepflanzt. Aber dem Wunsch, sein zu wollen wie Gott, sich selbst einen Namen zu machen, immer noch schneller, noch höher, noch größer zu werden, gebietet Gott Einhalt.
Meisterhaft setzt der Künstler dieses Streben der Menschen ins Bild – und nimmt vorweg, was geschrieben ist in 1.Mos.11, 7 Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! 8 So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.
Gewissermaßen hinter dem Turm kann man das Hereinbrechen der großen Flut erkennen.
Bildtafel 7 „Ecce homo“, Kreuzestod.
Johannes 19, 5 Und Pilatus spricht zu ihnen: Sehet, welch ein Mensch (ecce homo)! 33 Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon gestorben war, brachen sie ihm die Beine nicht; 34 sondern einer der Soldaten stieß mit einer Lanze in seine Seite, und sogleich kam Blut und Wasser heraus.
Bei der Genesis bleibt das Bekenntnis der Christen nicht stehn. Sowohl im Nicänisch-konstantinopolitanischen als auch im Apostolischen Bekenntnis handelt der sogenannte 2. Artikel von Jesus Christus. Er ist es, zu dem wir uns als Christen bekennen, er ist es, von dem wir Heil und Heilung erwarten, er ist es, der uns das neue, ewige Leben zusagt. In seinem Kreuz fängt er alles Leid, alle Verlorenheit, alle Unsicherheit und vor allem alle Schuld der Menschen auf. Wenn man wieder einen Schritt zurücktritt, sieht man deutlich, wie alle Tafeln, die gesamte Schöpfung und die durch die Generationen gestaffelte Menschheit, drohen nach rechts zu kippen.
Er, unser gekreuzigter Herr und Heiland, stemmt sich allein dagegen. Er fängt die ganze Schuld der Welt in seinem Kreuz und Auferstehen auf und macht uns heil. Die Hängung der Tafeln macht dies noch deutlicher: da neigt sich die Schöpfung – mit einem größeren Abstand sehen wir dieses Unheil in der Folge der Geschlechter (Turm) – und dann ER. Was man aber noch deutlich erkennen kann: folgt man dem Arm der Eva, die auf die Schlange weist, bis zur Kreuzestafel, dann landet man in einer geraden Linie am Fuß des Kreuzes: „Er wird dir den Kopf zertreten“ – diese Botschaft wird in dem gekreuzigten Christus vollendet.
Sogar auf dem Foto sieht man, was man mit bloßen Händen noch deutlicher erspüren kann: In dieser Tafel, in der wir den Tod vor Augen gestellt bekommen, verwendet Aschermann zum Auskleiden der Gussform lebendiges Material: Hanfseile, Holz, ein leichtes Gespinst. Ja – der Tod ist der Anfang des Lebens! Seht – welch ein Mensch!
Bildtafel 8: „Ecce mundi“, Apokalypse.
Aschermann deutet dieses Bild nicht. Für ihn ist dies die ewig offene Frage, ein Unterfangen mit unbestimmtem Ausgang.
Man erkennt vielleicht das Himmlische Jerusalem, die geordnete Welt am Ende – das Gegenbild zum Urchaos in der ersten Tafel. Offenbarung 21,12 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Manche mögen darin die 12 Tore finden 21, 21 Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, ein jedes Tor war aus einer einzigen Perle, und die Straße der Stadt war aus reinem Gold wie durchscheinendes Glas. So könnte diese Tafel der Ausblick in die himmlische Herrlichkeit sein.
Andere deuten daraus die Apokalypse, die verbaute, zubetonierte Schöpfung, menschenentleert, vielleicht auch eine Erde, auf der die Hybris des Turmbaus kein Ende findet. Sogar nach dem Kreuz und dem ewigen Erlass verfallen die Menschen immer wieder in den Kreislauf der Sünde und des Todes. Diese Realität nehmen wir täglich wahr.
Die berührendste Deutung gab mir ein sechsjähriges Mädchen: „Das ist doch ganz klar: das ist der Stein, der vom Grab weggerollt ist“. So lesen wir beim Evangelisten Markus: 16, 2 Sie (die Frauen) kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. 4 Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß.
Jene, die kamen, um den Tod zu konservieren, fanden das Neue Leben. Mit dieser Deutung erkennen wir den Trost schon im Diesseits, denn bei allen unseren Schritten, und seien sie noch so sehr auf den Tod zugewandt, scheint uns das Licht des Leben entgegen.