Liebe Interessierte am Nach-Denk-Brief!​
Liebe Freundinnen und Freunde!

Bei Lichte besehen! – Ein besonderer Gedenktag – der 18.7.2020!

Es sind genau 150 Jahre, seit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil in Rom jene umstrittene Formulierung dogmatisiert wurde: Wenn der Papst ex cathedra spricht, sind seine Entscheidungen unfehlbar.
In welchem Licht sehen wir das – heute – 150 Jahre danach? Wie kann die Kirche diese Entscheidung heute ins rechte Licht rücken?
Uns als Schwesterkirche steht es nicht zu, diese Entscheidung zu kritisieren, auch wenn die meisten sie vermutlich nicht verstehen.

Wenngleich die römisch katholische Kirche betont, dass dieses Dogma nur ein kleines Rädchen im Ganzen der Kirche sei, und auch von daher zu verstehen sei, tu ich mir schwer, den Begriff unfehlbar überhaupt im Zusammenhang mit Menschen in den Mund zu nehmen.
Klar ist die Verantwortung gegeben, nur Dinge zu interpretieren und nichts Neues zu verkünden, also gewissermaßen im Streitfall in äußerster Bedrängnis eine Interpretation einer Glaubenswahrheit letztgültig zu verkünden. Papst und Kirche bleiben also auch in diesen Fragen eng aneinandergebunden. Bisher wurde deses Instrument erst zweimal eingesetzt: 1854 ging es um die sogenannte Unbefleckte Empfängnis Mariens, also die Lehre, dass Maria selbst ohne Erbsünde empfangen worden sei, (Papst Pius IX) und 1950 wurde das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel auf diese Art verkündet. (Papst Pius XII). Bei Lichte besehen sind das aber genau die strittigen Fragen, die für andere Kirchen nicht nachvollziehbar sind bzw. gar keine Bedeutung haben.

Jede Interpretation der biblischen Wahrheit unterliegt einem Wandel,

der sich aufgrund von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ergibt. Dazu kommen so etwas wie die jeweilgen „Moden“. Nicht jedes Thema hat in jeder gesellschaftlichen Konstellation dieselbe Relevanz.
Jede Interpretation, auch des Dekalogs, ist in die konkrete Zeit hinein zu verstehen.
Klar: Mord bleibt Mord, um beim fünften Gebot zu bleiben. Aber allein die Frage, ob etwas Mord sei, ob Töten als Morden zu verstehen wäre, und auf welche Gruppe von Lebewesen sich das Tötungsverbot bezieht, hat sich drastisch gewandelt durch die Jahrtausende. Es kommt doch immer darauf an, wohin ich den Suchscheinwerfer gerade richte.
Wir sind sehr sensibilisiert, was das Töten von Tieren betrifft, was die artgerechte Tierhaltung angeht, wie es um Tiertransporte bestellt ist und dergl. mehr. Diese Fragen stellten sich nicht, als es keine Tiertransporte gab, man das Vieh einfach vor sich hertrieb, und Tiere wie Sachen behandelt wurden.

Kann es überhaupt unfehlbare Entscheidungen von Menschen geben? Ist das nicht eine contradictio in adiecto?

Denn die Frage stellt sich: ist es überhaupt denkmöglich, Entscheidungen zu treffen, die ein für alle Male fixiert sind, die also irreversibel oder irreformabel sind? Oder braucht es genau dies, dass es irgendwann heißt: Schluss mit der Debatte, so wollen wir das in Zukunft sehen.

Mt 28,19f Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Alles lehren, was Jesus befohlen hat – ja, aber nicht alles interpretieren, wie es Menschen sehen – da liegt doch der kleine Unterschied. Wir werden diesen Widerspruch nie aufzulösen vermögen, wenn wir die letztgültige Interpretation nicht zulassen wollen. Aber dies macht doch nur deutlich:
Einfach ist das alles nicht – aber es ist uns auch nicht verheißen, dass das Leben einfach ist, dass die Interpretationen des Lebens einfach sind. Wie gut!
Unverrückbar steht nur die Zusage Jesu: ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Eure

Ingrid Vogel