Liebe Interessierte am Nach-Denk-Brief!​​​​​
Liebe Freundinnen und Freunde!

Spieglein, Spieglein in der Hand!

Habt Ihr schon einmal einen jungen Hund beobachtet, wenn er erstmals einen Spiegel beschnuppert? Meist versucht er, mit dem Hund im Spiegel zu kommunizieren, er bellt ihn an, er knurrt, er wedelt mit dem Schwanz, er hüpft am Spiegel hoch, er jault … Ähnlich verhält sich ein kleines Kind. Wer ist das – was macht die – kenn ich den – versteh ich die? Unser Spiegelbild löst ganz viele Fragen aus, und oft lässt es uns ratlos zurück. Spieglein, Spieglein an der Wand – wer ist die Schönste im ganzen Land – so fragt die böse Stiefmutter von Schneewittchen. Und die Antwort ist ernüchternd.

Der Spiegel ist ein zweideutiges Symbol!

Eitelkeit, verbunden mit Stolz und Eigenliebe und zugleich die uralte Frage: Wer bin ich? Wer will ich sein, jetzt, vor mir, vor den anderen?
Dabei ist uns selten bewusst, dass wir uns spiegelverkehrt sehen, also genau nicht so, wie wir vor den anderen erscheinen möchten. Statt eines Bibeltextes möchte ich Euch heute mein Lieblingsgedicht – ein Spiegelgedicht weitergeben. Es stammt von Dietrich Bonhoeffer, dem deutschen Theologen, der im Kirchenkampf gegen Hitler und die Deutschen Christen 1945 im KZ Flossenbürg ermordet wurde.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest.
Wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott,
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.

Eure

Ingrid Vogel