Liebe Interessierte am Nach-Denk-Brief!
Liebe Freundinnen und Freunde!
Nur nicht zu früh aufgeben, oder: contra die Wegwerfgesellschaft!
Jesus sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, drei Jahre komme ich und suche Frucht an diesem Feigenbaum und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft? Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn herum grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.(Lk 3,16ff)
Wie ein Kontrapunkt zu den Aufforderungen, Dinge loszulassen oder besser freizugeben, wirkt dieses Gleichnis. Versuchen wir nicht gerade auf dem Weg des spirituellen Lebens, ununterbrochen dieses Freigeben? Sich trennen von allem „Graffl“, das keiner mehr braucht und das keinen Nutzen hat, ist doch wie ein stetes Memento auf jedem geistlichen Weg. Und sagt nicht Jesus selbst: Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo Motten und Rost sie fressen. (Mt 6,19) – davon hatten wir es erst gestern.
Was ist so ein Feigenbaum anderes, wenn er schon seit drei Jahren nichts bringt an Früchten?
Jesus hat den langen Atem und er ermuntert uns zu genau solchem Handeln.
Wie oft passiert es, dass wir mit unserem schnellen Vorurteil sagen: lass es, das wird doch nichts mehr mit … — und damit ist vielleicht ein Schüler gemeint, der sich schwertut, und dem das Licht noch nicht so recht aufgegangen ist. Damit ist vielleicht die neue Sekretärin gemeint, die halt ein wenig länger braucht, um sich zurechtzufinden. Damit ist vielleicht die Lehrerin gemeint, die grad von der Uni kommt, und den Schulalltag nicht checkt. Vor-Urteil meint, ja, wir haben unser Urteil schon gesprochen, bevor wir dem anderen eine zweite Chance gegeben haben. Und was für Menschen gilt, passt auch für viele Dinge: wir können versuchen, sie zu „re-parieren“, wieder in Ordnung zu bringen, heil zu machen und nicht gleich wegzuwerfen, wenn ein kleiner Fehler auftritt.
Da trat Petrus hinzu und sprach zu Jesus: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist’s genug siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. (Mt 18,21f)
Für Jesus ist das Durchhaltevermögen keine Einbahnstraße.
Wichtig ist ihm, dass wir sowohl beim Fehler-Machen als auch beim Vergeben die Ausdauer haben.
Die zwei Anweisungen und Beispiele Jesu kann man nicht gegeneinander ausspielen. In der Bergpredigt geht die Anweisung zum Freigeben weiter: Mt 6,20 Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motten noch Rost sie fressen und wo Diebe nicht einbrechen und stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. Die prinzipielle Ausrichtung unseres Sinnes ist hier angesprochen. Wie geht er Weg ins Himmelreich, und was muss daher auf dieser Erde schon Vorrang haben. Beim Feigenbaum geht es um die konkrete Sache, die es gilt als Gabe der Schöpfung Gottes liebevoll zu hegen und zu pflegen. Und so gilt es eben auch in vielen Dingen, dranzubleiben ohne Vorverurteilungen. Auch das ist eine spirituelle Weisheit. Meditari hat ja mit Übung zu tun, und
Übung macht den Meister – auch die spirituellen Meisterinnen und Meister.
Eure
Ingrid Vogel