Liebe Interessierte am Nach-Denk-Brief!​​​​​​
Liebe Freundinnen und Freunde!

Im Schatten des Kreuzes

Der Karsamstag ist ein toter Tag – vielleicht ist uns das im Moment gar nicht so fremd. Das Kreuz ist schon vorüber, Christus im Grab.
Die Auferstehung lässt noch auf sich warten.
Der Karsamstag ist der wirklich stillste Tag im Jahr.

Meist erleben wir den Schatten, der nachfolgt.

Doch das Kreuz Jesu wirft seine Schatten schon lange voraus –
*Johannes lässt uns wissen: Siehe, das ist Gottes Lamm,
das der Welt Sünde trägt! ​​1,29
*In Kana spricht Jesus zu Maria: Was geht’s dich an, Frau, was ich tue?
Meine Stunde ist noch nicht gekommen. ​2, 4
*Bei der Tempelreinigung sprachen die Juden: Dieser Tempel ist in sechsundvierzig Jahren erbaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? Jesus aber redete von dem Tempel seines Leibes.​ 2,20
*Im Gespräch mit Nikodemus sagt Jesus: Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.
Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben​​. 3,16
*Jesus sprach zu seinen Jüngern: Ich habe eine Speise zu essen, von der ihr nicht wisst. ​4,32

Das Kreuz kommt nicht aus heiterem Himmel.

Immer wirft es seinen Schatten voraus. Immer schon können Menschen hören und sehen, wann und wo und wie es kommen könnte, doch wir wollen den Schatten nicht sehen – wir scheuen uns, in den Schatten zu treten, wir haben Angst, selbst im Schatten zu stehn.

Was erkenne ich im Schatten des Kreuzes?

Ich sehe den Bogen – der spannt sich weit – umgreift Hohes und Tiefes, er ist im Licht, dunkel das Kreuz –
Ist die Stunde schon gekommen, ist der Augenblick in die Zeit hereingebrochen?
Im Schatten des Kreuzes fragen Menschen nach Gott, sie warten, sie erwarten etwas von ihm.
Und doch – er antwortet nicht, noch nicht? gar nicht?
Der Schatten schwebt in der Höhe, er mahnt an die Tiefe, bodenlose Tiefe, tonloses Schweigen.

Was erkenne ich im Schatten des Kreuzes?

Die Wand bleibt kahl, die Fragen offen. Wer traut sich zu sprechen im Angesicht der Rächer.
Wer kann fragen, wenn der Tod so nahe ist. Und dennoch: ewig scheint ein Licht, es will nicht im Dunkel lassen, was andere unter den Teppich kehren, es will nicht vertuschen, was die Mächtigen so manchem angetan. Im Schatten des Kreuzes vor dem Schweigen der kahlen Wand spricht einer:
Ich muss schlucken, was Ihr nicht wollt.
Im Schatten des Kreuzes vor dem Schweigen der kahlen Wand beginnen wir manches zu erahnen –
auch im Schweigen.
Ich sehe Menschen im Schatten des Kreuzes, die mit der Torheit es Kreuzes nicht zu Rande kommen
und immer noch träumen von einer Welt ohne Leid. Das Mauerwerk bröckelt, die Fassade ist ab,
das Leben ungeschminkt.
Ich sehe Menschen, die dankbar sind für jeden Splitter des Kreuzes, um den Balken im eigenen Leben zu erkennen.
Im Schatten des Kreuzes – in der Stille des Schweigens –
„Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar“ – ja, getröstet auch mit Worten von Bonhoeffer, dessen Tod sich am Gründonnerstag zum 75. Mal jährte

Eurer Ingrid Vogel