Liebe Interessierte am Nach-Denk-Brief!
Liebe Freundinnen und Freunde!

Wenn alle Stricke reißen

Dann gibt es nichts mehr, womit man sich erhängen kann“ – so eine makabre Fortführung der Redensart.

Stricke des Todes hatten mich umfangen, des Totenreichs Schrecken hatten mich getroffen; ich kam in Jammer und Not. (Psalm 116,3)

In unserer Bibel kommen Stricke sehr oft im Zusammenhang mit Tod vor. Stricke, die fesseln und binden und zu Tode bringen.
Mir fallen eher die Stricke ein, die Kraft bieten, die etwas zusammenbinden, festen Halt und Sicherheit geben.
Diese Bedeutung liegt wohl auch der ursprünglichen Herkunft der Redensart zugrunde: wenn die Zugstricke an den Wagen rissen, dann musste man zu drastischen Notmaßnahmen greifen. Die Notbremse musste gezogen werden, die Tiere gesichert, die Wagen erst mal blockiert und in Sicherheit gebracht werden.

Genau darum geht es auch bei den Corona-Maßnahmen – manche Stricke sind gerissen, und wir erleben solche Notbremsungen und Notmaßnahmen.
Dass man dabei auch durchaus erfinderisch sein musste und muss, liegt auf der Hand. Und wir sind alle am Lernen – wie kann das für ein nächstes Mal rascher, mit weniger Druck und vielleicht ressourcenadäquater geschehen.

Dennoch gilt es, das Maß zu finden.

Denn auch wenn alle Stricke reißen, muss man nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen, aber auch nicht so tun, als sei alles ohnedies beim alten geblieben.

Vielleicht hilft uns das Verb stricken, was nach dem etymologischen Wörterbuch soviel heißt wie: verbinden, schnüren, heften, flechten. Es geht also darum, wieder neuen und auch besseren Zusammenhalt zu finden.

„Stricken“ wir also neu an solchem Zusammenhalt.

Sind auch wir erfinderisch, um zu halten, was aus dem Gleis gelaufen ist und Gefahr läuft wegzurollen, und versuchen wir neben der Notbremse auch neue Wege zu finden, und alte Blockaden aufzuheben. Gerade in unserem kirchlichen Leben geht es m.E. darum, dass wir lernbereit sind, aber nicht um jeden Preis und mit allen Mitteln. Um den Satz richtig fortzuführen, geht es wie immer auch um eine Analyse, was eigentlich alles gerissen ist. Denn wenn alle Stricke reißen, sind es eben die
Stricke, die reißen, nicht die Achsen, die gebrochen oder die Zugtiere, die unter die Räder gekommen sind.
Verhältnismäßigkeit, hat mit dem Maß zu tun im Verhältnis zu dem Schaden.

In der Bergpredigt wird die alttestamentliche Regel der Verhältnismäßigkeit sogar insofern außer Kraft gesetzt, dass uns ein neues Maß angeboten wird. Matthäus 5,38ff: Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.
Versuchen wir doch ein solches neues Maß zu finden, wenn alle Stricke reißen – jetzt und auch in Zukunft.

So wünsche ich uns ein maßvolles Starten in neue mentale, virtuelle und reale Wege!

Eure

Ingrid Vogel